Förderung Geförderte Vorhaben Queer Reading – eine Methodologie. Deutsche Literatur im Zeitalter des Paragraphen 175 (1872-1994)

Queer Reading – eine Methodologie. Deutsche Literatur im Zeitalter des Paragraphen 175 (1872-1994)

Ansätze des Queer Reading entstanden ab den 1990er Jahren in den USA als interdisziplinäre Frageperspektive einer Heteronormativitätskritik.

Ziel des Projekts ist es, für den deutschen Sprachraum eine methodische Übersicht queerer Lektüreverfahren zu erarbeiten. Um dabei auch An­sichten zu begegnen, die das Queer Reading als wesen­haft unsystematisch und tendenziell beliebig bezeichnen, wird es als Form des Close Reading aufgefasst, das in Texten, die unter heteronormativen Bedingungen ent­stehen, ein mit dieser Norm unvereinbares Begehren identifiziert und dafür offen auf der Textoberfläche zutage liegende Strukturen analysiert – mit dem Ziel einer Dekonstruktion der heteronormativen Matrix. Als Gegenbegriff zu ‚heteronormativ‘ deckt ‚queer‘ dabei auch andere Normabweichungen ab (nicht-binär, nicht-weiß, behindert usf.), um andere intersektionale Diskriminierungsformen zu integrieren.

Ansätze wie das Gay Reading oder derjenige von Heinrich Detering, die das Tabu der Homosexualität an­hand biographischer Informationen als Subtext unter einer anscheinend normkonformen Oberfläche entschlüsseln (Detering: ‚Camouflage‘), werden im Methodenspektrum mitbedacht, aber der Projektansatz verschiebt den Fokus vom Biographismus auf die Gesellschaftskritik und strukturell auf die Textoberfläche: Welche dort fassbaren Elemente, Motive etc. eignen sich als Ansatzpunkte für queere Lektüren? Wie funktionieren sie semantisch und formal? Welcher Lektürehaltung und welchen Wissens bedarf es, um sie zu erkennen? Welche Kontinuitäten oder Verschiebungen sind in der heteronormativen Matrix zu beobachten? Wie wirken sie sich auf queere Schreib- und Lektüreverfahren aus? Gibt es Traditions­linien queeren Erzählens und Lesens? Erfordern verschiedene Phasen unterschiedliche Lektürehaltungen? Und wie sind die diversen Ansätze des Queer Reading systematisierbar?

Da queere Textstrukturen jeweils kontextsensitiv – d. h. bezogen auf die heteronormative Matrix – zu analysieren sind, wurde als Korpusgrundlage der Zeitraum der Wirk­samkeit des Paragraphen 175 gewählt (1872 mit Grün­dung des Deutschen Kaiserreichs in Kraft getreten, 1994 abgeschafft). Angelehnt an seine Revisionen werden drei Phasen definiert, zu denen dann jeweils exemplarische Studien entstehen sollen: Phase I (1872-1933) über­greift die frühe Frauenbewegung und die erste homo­sexuelle Subkultur (Clubs, Cafés, Zeitschriften etc.). Anhand von z. T. nichtkanonisierten Erzähltexten von Autorinnen werden hier Darstellungsmodi bzw. Chiffrierungen der Frauenliebe untersucht: Geschlechter­rollen, Subjektwerdungsansprüche, alternative Lebens­konzepte zur Familie etc. Seitenblicke gelten populärer Literatur (Vicki Baum u. a.) oder dem Film „Mädchen in Uniform“. In Phase II (1933-1969) unterbindet und kriminalisiert die NSDAP die homosexuelle Subkultur; 1935 wird der Paragraph 175 drastisch verschärft; diese Fassung geht 1945 in das Strafrecht der BRD ein, die DDR übernimmt die mildere Fassung von 1872. Die exemplarische Studie beleuchtet hier die Kriminalisie­rung in der NS-Zeit und v. a. deren Nachwirken im homophoben Klima beider deutscher Staaten in den ersten Nachkriegsjahrzehnten (Verknüpfung von Homosexualität mit Staatsverrat, Figur des homosexuel­len Altnazis etc.) in Texten von Wolfgang Koeppen, Bertolt Brecht, Ingeborg Bachmann und v. a. Ludwig Renn. Für Phase III (die Liberalisierungen seit 1969) studiert Prof. Kraß exemplarisch, wie in der ab 1990 entstehenden HIV/Aids-Literatur (bei Napoleon Seyfarth, Mario Wirz, Roland M. Schernikau, Hubert Fichte, deren Kanonisierung z. T. erst jetzt einsetzt) das hinzukommende Tabu der tödlichen Krankheit neue Schreibweisen begründet.

Als Hintergründe werden für alle Phasen die historischen Kontexte erhellt: gesetzliche und soziale Rahmen­bedingungen, Formen des queeren Selbstverständnisses, sexualwissenschaftliche Diskurse etc.; gängige literatur­geschichtliche Zäsuren werden darauf geprüft, ob sie auf das Korpus zutreffen.

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