Arbeitskreise Zurechnung Aktuelles

Aktuelles

  • 5./6. September 2022: 8. Sitzung (teilweise öffentlich)

    Zu seiner Abschlusssitzung hat der Arbeitskreis sechs externe Vertreter:innen der Fachbereiche Ökonomie, Philosophie und Rechtswissenschaft eingeladen, aus der Sicht ihres jeweiligen Fachs Teile der mittlerweile erschienenen Bandpublikation des Arbeitskreises kritisch zu kommentieren oder im Blick auf je eigene Arbeitsschwerpunkte zu ergänzen.

    Weyma Lübbe/Thomas Grosse-Wilde (Hg.), Abwägung. Voraussetzungen und Grenzen einer Metapher für rationales Entscheiden. Paderborn: Brill/mentis 2022, 429 S.

    Von den drei Kapiteln des Bands befasst sich das erste mit Problemen der in entscheidungstheoretischen Ansätzen verankerten These, zur Bewertung von Handlungen seien deren „Konsequenzen“ abzuwägen. Dieses Kapitel dokumentiert die arbeitskreisinterne Kontroverse zwischen Wolfgang Spohn als Vertreter der These, dass der begriffliche und axiomatische Rahmen der Entscheidungstheorie mit zurechnungstheoretisch orientierten Handlungstheorien grundsätzlich kompatibel sei, und mehreren Kritikern diese These (Weyma Lübbe, Hannes Worthmann, Peter Wiersbinski und Thomas Grosse-Wilde). Gastreferenten, die gebeten worden waren, an dieses Kapitel anzuschließen, waren Geert Keil (Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin), der die entstandene Diskussionslage konzise rekapitulierte, und Erasmus Mayr (Philosophie, Universität Erlangen-Nürnberg), der zusätzliche handlungstheoretische Gesichtspunkte einbrachte.

    Das zweite Kapitel des Bandes enthält Beiträge zur Diskussion entscheidungs- und sozialwahltheoretischer Axiome, die für die dort vorgesehenen Formen der Abwägung essenziell sind. Denn für Kontexte der moralischen und juristischen Handlungsbewertung war der Gültigkeitsanspruch einiger Axiome im Arbeitskreis auf Widerspruch gestoßen. Das betrifft vor allem Unabhängigkeitsaxiome (dazu Wulf Gaertner, Weyma Lübbe, Martin Rechenauer, Thomas Grosse-Wilde), aber auch Vollständigkeits- und Bereichsannahmen (Weyma Lübbe, Martin Rechenauer), die keineswegs nur eine sogenannte technische Bedeutung haben. Die zu diesem Kapitel verbliebenen Dissense sind innerhalb des Arbeitskreises nicht tief. Die beiden Gastreferenten Urs Schweizer (Ökonomie, Universität Bonn) und Christoph Lumer (Philosophie, Universität Siena) schlossen mit eigenen Überlegungen und konzeptionellen Vorschlägen an, die ihrerseits kontrovers diskutiert wurden.

    Das dritte Kapitel thematisiert das im Rahmen der Grundrechtstheorie so genannte Abwägen von Rechten. Im Anschluss an Beiträge, die der Metapher des Abwägens im grundrechtstheoretischen Kontext sehr viel (Martin Borowski) bzw. nur Begrenztes (Ralf Poscher) zutrauen, entwickelt der dritte, intensiver auf die vorangehenden Kapitel des Bandes bezogene Beitrag (Laurence O’Hara) eine Position, derzufolge der Ausgleich zwischen Rechtspositionen nicht als Abwägung, sondern als Konkretisierung von Rechten zu fassen ist. Zwei weitere Beiträge (Peter Wiersbinski, Wolfgang Spohn) eruieren abschließend, im Ergebnis uneins bleibend, die Frage, ob eine solche Konzeption ihrerseits mit formalen Mitteln als eine (andere) Form der Abwägung modellierbar ist. Wegen krankheitsbedingter Absage einer zweiten eingeladenen Kollegin übernahm der Gastreferent Klaus Günther (Rechtswissenschaft, Universität Frankfurt) den kommentierenden Part hier allein und ergänzte dabei Hilfreiches zur Geschichte des Grundrechtsdenkens.

    Die Unterschiede zwischen der entscheidungstheoretisch-ökonomischen Perspektive und der rechtstheoretisch-moralphilosophischen Perspektive wurden anlässlich dieser Abschlusstagung schließlich noch einmal in einem öffentlichen Abendvortrag veranschaulicht (Weyma Lübbe). Unter dem Titel „Schicksal, Risiko, Ver­schul­den: Zurechnung in der Pandemie“ untersuchte Lübbe an zwei Beispielfeldern – der Zuschreibung von Todesfällen zu amtlichen Entscheidungen und der (Selbst-)Zuschreibung von Todesfällen bei ärztlichen Triage-Entscheidungen – Prozesse der Zurechnung im fachlichen und öffentlichen Diskurs. Leitend war das Interesse an der Frage, wie sich verbreitet vertretene Maßstäbe für rationales (insbesondere: Todesfälle minimierendes) Entscheiden und institutionell verankerte Maßstäbe der Zurechnung zueinander verhalten. Im Vortrag wurde herausgearbeitet, dass diese Maßstäbe inkompatible Handlungsempfehlungen bedingen, deren Verarbeitung im öffentlichen und politischen Diskurs stets erneut Irritationen auslöst und tendenziell zu instabilen gesetzlichen Kompromissformeln führt. Insofern bot der Vortrag auch eine Antwort auf die im Lauf der Abschlusstagung mehrfach aufgekommene Frage, ob es denn überhaupt problematisch sei, wenn die in unterschiedlichen akademischen Traditionen entwickelten Maßstäbe dazu, welche Handlungsbewertungen vertretbar und vernünftig sind, in grundsätzlicher Weise inkompatibel sind.

  • 21./22. Februar 2022: 8. Sitzung (teilweise öffentlich) --- verschoben ---

    In dieser Abschlusssitzung beendet der Arbeitskreises seine Arbeit mit der Besprechung des gemeinsamen Sammelbands „Abwägung. Voraussetzungen und Grenzen einer Metapher für rationales Entscheiden“. Eingeladen sind sechs Gäste, welche die einzelnen Kapitel entsprechend ihrer eigenen Fachrichtung kommentieren.

    Ein öffentlicher Abendvortrag mit dem Titel „Schicksal, Risiko, Ver­schul­den: Zurechnung in der Pandemie“ von Prof. Dr. Weyma Lübbe veranschaulicht die Bedeutung von ‚Zurechnung‘ anhand der aktuellen Covid-19-Krise.

    Die Tagung wurde pandemiebedingt auf den 5./6. September 2022 verschoben.

  • 20. Mai 2021: 7. Sitzung – Redaktionssitzung (online, nicht-öffentlich)

    In der zweiten Redaktionssitzung zum Publikationsprojekt des Arbeitskreises wurden jüngst fertiggestellte Beiträge aus den drei Kapiteln des geplanten Bands kommentiert und diskutiert. Die inhaltliche Integration der Kapitel wurde vorangetrieben, thematische Positionen für weitere Beiträge wurden festgelegt und ein Zeitplan zur Fertigstellung des Projekts im Dezember 2021 wurde beschlossen.

    Der geplante Band setzt die Konzepte des Abwägens und des Zurechnens aus der Perspektive von Handlungstheorie, Entscheidungstheorie und Rechtswissenschaft zueinander in Beziehung. Ein ausführliches Exposé findet sich hier. Das erste Kapitel widmet sich der Explikation und kritischen Evaluation des Handlungsbegriffs und des Begriffs der Konsequenz bzw. des „outcome“ in der Entscheidungstheorie; beide Konzepte werden dort oft als unproblematische Theoriebausteine betrachtet und erfahren daher wenig spezifische Aufmerksamkeit. In den auf der Redaktionssitzung diskutierten neuen Beiträgen zu diesem Kapitel wird unter anderem untersucht, ob das aus der analytischen Handlungstheorie bekannte Problem der abweichenden Kausalketten, das der Sache nach in der Strafrechtsdogmatik seit langem reflektiert wird, bisher nicht beachtete Herausforderungen für die Entscheidungstheorie bietet. An diesem und an weiteren Aspekten ausführlich diskutiert wurde die Frage, ob Handlungszuschreibungen schon auf der Ebene der Semantik und nicht erst der Pragmatik normativ sind, also Urteile darüber mit einschließen, was jemand hätte tun oder lassen sollen.

    Im zweiten Kapitel werden einige der Unabhängigkeitsannahmen in den Blick genommen, die entscheidungstheoretischen Modellen und Kalkülen zugrunde liegen. Die neu eingegangenen Beiträge buchstabieren zum einen die Konsequenzen dieser Annahmen für Situationen aus, in denen das sogenannte feasible set, also die Menge der Optionen, die einem Entscheider zur Umsetzung offenstehen, etwa aufgrund von Ressourcenknappheit eingeschränkt ist. Gegenstand der Diskussion waren hier mögliche Kollisionen zwischen den axiomatisch gefassten Rationalitätsmaßstäben der Entscheidungstheorie und der auf verbreiteten Intuitionen über Chancengleichheit und Zurechnung basierenden Rechtfertigungslogik des Rechts. Weiterhin wurde der Frage nachgegangen, ob und wie solche Unabhängigkeitsannahmen mit schwachen Zusatzprinzipien in eine individuelle Nutzenwerte aggregierende Ethik überführt werden können.

    Im dritten Kapitel schließlich stehen die Fragen im Mittelpunkt, welche Rolle Abwägung im Recht spielt und inwieweit der Begriff der Abwägung geeignet ist, die juristische Normenbildung und -anwendung zu explizieren. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Perspektive des Verfassungsrechts, wo das Verhältnismäßigkeitsprinzip zumeist als Abwägungsprinzip gedeutet wird. Die neu eingegangenen Beiträge betrachten die Grenzen der analytischen Leistungsfähigkeit einer quantifizierend verstandenen Abwägungsmetapher sowie die von ihr vorausgesetzten Kommensurabilitätsanforderungen. Es werden auch theoretische Alternativen zu diesem Modell entwickelt, die die Konzepte der Deduktion und der Konstruktion von Normensystemen in den Mittelpunkt rücken.

    Neben der Fertigstellung noch ausstehender Beiträge sind nun die eingegangenen Aufsätze im Lichte der Rückmeldungen und Diskussionen zu finalisieren. Die der Sache nach vorhandenen Querverbindungen zwischen den Kapiteln sollen dabei teils noch ausführlicher expliziert werden. Es wurde beschlossen, den Arbeitskreis nach Abschluss der Redaktionsarbeiten, soweit die Pandemie es dann zulässt, mit einer durch geeignete Gastreferenten unterstützten Präsenztagung mit öffentlichem Abendvortrag im Februar 2022 zu beenden.

  • 23./24. Februar 2021: 6. Sitzung (online, nicht-öffentlich)

    Die 6. Sitzung des Arbeitskreises, die als online-Format stattfinden musste, widmete sich unter dem Titel Zurechnungsintuitionen in der Kritik – Zurechnungsinstitutionen im Wandel zwei miteinander verknüpften Themen: zum einen der Bedeutung von kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen für einige klassische zurechnungstheoretische Differenzierungen, zum anderen der Frage, in welchem Maße zurechnungstheoretische Konzepte in verschiedenen Bereichen des Rechts einem Wandel unterliegen.

    Dabei ging der Arbeitskreis von der Beobachtung aus, dass manche neurowissenschaftliche und experimentelle moralpsychologische Studien die im Recht vielfältig institutionalisierte und auch in der Alltagsmoral verankerte Weigerung, alle voraussehbaren Folgen von Handlungen stets in gleicher Weise normativ „zählen zu lassen“, auf evolutionär erklärbare „biases“ zurückführen – auf potentiell verzerrende unbewusste Repräsentations- und Verhaltenstendenzen also, die bewusst gemacht und zugunsten rationalerer, nämlich konsequentialistischer Formen des Entscheidens kritisch reflektiert werden sollten. Angesichts der wachsenden interdisziplinären Bedeutung der überwiegend noch jungen kognitionswissenschaftlichen Forschungen sehen sich das Recht und die seine Konzepte reflektierenden Normwissenschaften mit der Frage konfrontiert, auf welchen expliziten oder auch impliziten Annahmen die genannte These beruht und was aus den Daten tatsächlich gefolgert werden kann.

    Zugleich reflektierte die Tagung auf den Umstand, dass zurechnungstheoretische Konzepte und ihre Anwendung auch innerhalb des Rechts einem Wandel unterliegen, mit dem das Rechtssystem auf sich verändernde Zurechnungsbedarfe reagiert. Zu klären war, ob Signale solchen Wandels tatsächlich als Zeichen einer fortschreitenden „Konsequentialisierung“ der Zurechnungsverhältnisse interpretierbar sind. (Im ursprünglich geplanten Abendvortrag von Frau Prof. Dr. Sabine Gless sollte am Beispiel des autonomen Fahrens thematisiert werden, ob die einschlägigen strafrechtlichen Konzepte sich schon aus Gründen daten- und steuerungstechnischer Neuerungen unter Änderungsdruck befinden. Der öffentliche Vortrag entfiel aufgrund des online-Formats der Sitzung.)

    Auf der Sitzung diskutierten Mitglieder des Arbeitskreises und sieben Gäste aus den Fachbereichen Philosophie (Dr. Hanno Sauer, Universität Utrecht; Dr. Martin Weichold, Universität Regensburg; Dr. Hannes Worthmann, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Recht (Dr. Jan Christoph Bublitz, Universität Hamburg; Prof. Dr. Sabine Gless, Universität Basel; Prof. Dr. Tatjana Hörnle, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Ralf Poscher, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg).

    Sowohl in Bezug auf die Bedeutung der Kritik klassischer Zurechnungsintuitionen von Seiten der Kognitionswissenschaften als auch in der Frage, ob ein Wandel in unseren Zurechnungsinstitutionen erkennbar werde, gingen die Einschätzungen der Teilnehmenden im Blick auf ihre jeweiligen Fächer teils auseinander. Innerhalb der Philosophie zeichnet sich nach anfänglicher Euphorie der einschlägig engagierten Fachvertreter eine zunehmende Relativierung der Relevanz experimenteller und kognitionswissenschaftlicher Resultate ab, während der Einfluss dieser Disziplinen in Teilen der Rechtswissenschaften noch Fahrt aufzunehmen scheint. Das Strafrecht scheint gegenüber konsequentialistischen Tendenzen weitgehend immun zu sein, während andere Bereiche, etwa das Polizeirecht und in anderer Weise das Verfassungsrecht, bereits von vornherein weniger eindeutig nonkonsequentialistisch orientiert und offener für konsequentialistische Entwicklungen sind.

    Die Sitzung bestätigte die Erfahrung des Arbeitskreises, dass die Artikulation grundlagentheoretischer Divergenzen und das Bemühen um transdisziplinäre Begriffsbildung eine zeitaufwändige, vertiefte Betrachtung konkreter Anwendungsbereiche und Fallbeispiele erfordern. Das drückt sich auch darin aus, dass im Arbeitskreis weiterhin kein Konsens darüber herrscht, ob die unterschiedlichen Methoden, Modelle und Zwecke der beteiligten Disziplinen im Hinblick auf zurechnungstheoretische Konzepte tatsächlich in Konflikt miteinander geraten und sich potentiell gegenseitig zu tiefgreifenden Korrekturen veranlassen oder ob die entscheidungstheoretisch-ökonomische Perspektive auf der einen und die rechtsphilosophisch-juristische Perspektive auf der anderen Seite zumindest auf einer abstrakt-formalen Ebene miteinander kompatibel sind.

    Diese letzte Frage steht im Zentrum der geplanten Publikation des Arbeitskreises. Im Zuge der gemeinsamen Arbeit am Publikationsprojekt wird es im Mai 2021 eine weitere Redaktionssitzung geben.

  • 15. Januar 2021: 5. Sitzung – Redaktionssitzung (online, nicht-öffentlich)

    Seit dem Ende des Präsenzbetriebs hat der Arbeitskreis auf der Basis einer Sichtung des bislang eingebrachten Textmaterials ein Publikationsprojekt zum Thema „Abwägung. Voraussetzungen und Grenzen einer Metapher für rationales Entscheiden“ entwickelt.

    Abwägung ist ein Alltagskonzept. Es bezeichnet einen Vorgang prak­tischen Über­legens, in den mehrere Aspekte oder Gesichtspunkte in vergleichender Weise eingehen. In der praktischen Philosophie wird der Ausdruck ebenso ubiquitär verwendet wie in den Wirtschafts­wissenschaften und im Recht, nament­lich im öffentlichen Recht. Die Eignung des Konzepts, prakti­sches Überlegen, sei es in rekonstruktiver, sei es in kritischer Absicht auf den Begriff zu bringen, ist jedoch umstritten. Die Skepsis gründet vor allem in dem Umstand, dass sich die Metapher des Abwä­gens nicht auf beliebige positiv oder negativ bewertete Items anwen­den lässt. Insbesondere müssen die Wertzuschreibungen, die das „Gewicht“ der Items im Abwägungsprozess bestimmen, in ihren normativen Grundlagen widerspruchsfrei sein und sie müssen ähnlich wie die Gewichtskräfte, mit denen Körper auf die Schalen einer Balkenwaage einwirken, eine gewisse Kontextinvarianz aufweisen. Das setzt Unabhängig­keitsannahmen voraus, deren Gültigkeit im Kontext normativer Bewertungen nicht trivial ist. Das in dem geplanten Band versammelte Material dient dem Zweck, diese Zusammenhänge durch­sichtiger zu machen.

    Nähere Auskünfte zu den vorgesehenen Inhalten und zu ihrem Zusammenhang mit den bisherigen Sitzungen des Arbeitskreises enthält das hier einsehbare Konzept.

  • 7./8. April 2020: 5. Sitzung (teilweise öffentlich) --- verschoben ---

    Zurechnungsintuitionen in der Kritik – Zurechnungsinstitutionen im Wandel: Unter diesem Titel war eine Tagung des Arbeitskreises mit mehreren externen Referent*innen und einem öffentlichen Abendvortrag geplant. Die Veranstaltung musste pandemiebedingt entfallen.

    Die Tagung wurde am 23./24. Februar 2021 in einem online-Format nachgeholt.

  • 10./11. Oktober 2019: 4.Sitzung (nicht-öffentlich)

    Die Mitglieder und Gäste des Arbeitskreises sowie drei Gastreferenten (Prof. Dr. Franz Dietrich, Paris School of Economics; Dr. Laurence O’Hara, MPI Bonn; Prof. Dr. Hans Rott, Universität Regensburg) widmeten sich in der vierten Sitzung der Frage, inwieweit normlogische und axiomatische Repräsentationen in Philosophie und Ökonomie geeignet sind, die Eigenarten juristischen und ihm verwandten ethischen Entscheidens und Begründens angemessen zu erfassen. Die thematische Konkretisierung erfolgte im Bemühen, einige Fäden wiederaufzunehmen, die in der explorativen Auftaktsitzung und in der zweiten, dem Abwägen und seinen Voraussetzungen gewidmeten Sitzung liegen geblieben waren. Dazu gehörten namentlich die Frage der Repräsentierbarkeit der Zurechnungsrelation, mittels der ein Geschehen als jemandes Handlung (resp. Unterlassung) identifiziert wird, sowie das Problem der Angemessenheit von Unabhängigkeitsannahmen, die aggregierendem und (in einem anspruchsvolleren Sinne) abwägendem Bewerten zugrunde liegen.

    Insgesamt ergab sich folgende Sitzungsstruktur:

    •  Nicht-monotone Normlogik als qualitative Entscheidungstheorie (Textbasis Spohn; Kommentare Bock, Grosse-Wilde, O’Hara)
    •  Bedeutung von Additionstheoremen (Textbasis Dietrich, Rechenauer; Kommentare Albert, Lübbe, Rott)
    •  Prozedurale Aspekte ökonomischen Entscheidens (Textbasis Gaertner; Kommentare Lübbe, Rechenauer)

    In den durchweg lebhaften Debatten zeichneten sich in einigen Punkten Konsense ab, in anderen Missverständnisse, die ausführlichere, auch über das Treffen hinaus reichende  Nachfragen nötig machten. In wesentlichen Hinsichten bestehen aber auch Dissense, die die Grundlagen ganzer Literaturbereiche (etwa der deontischen Logik) betreffen und sich als entsprechend hartnäckig erweisen. Einer dieser Dissense betrifft den Sinn normativen Redens überhaupt: Bezieht man sich damit sinnvollerweise auf handelnd (oder unterlassend) Erreichbares und damit auf grundsätzlich Zurechenbares oder kann man, wie es Spohns normlogischer Ansatz verlangt, alles Mögliche (etwa das morgige Wetter) als „gesollt“ bezeichnen? Hinsichtlich der Additionstheoreme, die insbesondere am Beispiel von Harsanyi diskutiert wurden, bestand Einigkeit, dass sie nicht als Argument für die (sc. ungewichtete) Summierung des Utilitarismus lesbar sind. Klar wurde auch, dass ohne Unabhängigkeitsannahmen irgendwelcher Art Additivität überhaupt nicht herleitbar ist und dass solche Annahmen in Kontexten normativen Bewertens nicht trivial sind. In den Diskussionen zum dritten Sitzungsteil geriet erneut das Problem der adäquaten Erfassung des Handlungsbegriffs in den Blick: Wer einen outcome (etwa Peters Tod) einem Akteur als seine Handlung zurechnet, sagt etwas über das Zustandekommen des outcomes, also etwas Prozedurales. Das im Strafrecht so genannte Erfolgsdelikt (Bsp. „Totschlag“) lässt sich allerdings –  im Unterschied zu manchen anderen Bewertungen, die Prozedurales einbeziehen – nicht durch Postulieren zweier separater Mengen (Menge von outcomes, Menge von Prozeduren) und deren anschließende Verknüpfung fassen.

    Die fünfte Sitzung im April 2019 wird sich der jüngst auf der Basis kognitionswissenschaftlicher Resultate entwickelten Kritik an bestimmten deontologischen Zurechnungsintuitionen zuwenden und diskutieren, ob die einschlägigen (straf-)rechtlichen Institute sich schon aus Gründen daten- und steuerungstechnischer Neuerungen unter Änderungsdruck befinden. In einem öffentlichen Abendvortrag wird Prof. Sabine Gless (Strafrecht, Universität Basel) sich exemplarisch mit der Zurechnung beim autonomen Fahren befassen.

  • 2./3. April 2019: 3. Sitzung (teilweise öffentlich)

    Zum Auftakt seiner dritten Sitzung befasste sich der Arbeitskreis mit der vor al­lem in den Jahren 2007-2011 intensiv geführten gesundheitspolitischen Debatte um die Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel. Die Kontroverse wurde den Arbeitskreismitgliedern und Gästen durch zwei aktiv beteiligt gewe­sene externe Referenten vor­gestellt: PD Dr. Stefan Lange, stellvertretender Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlich­keit im Gesundheitswesen (IQWiG), sowie Prof. Stefan Huster (Öffentliches Recht und Gesundheitsrecht). Ein Opponent aus dem an der Kontroverse beteiligt gewesenen Fach Gesundheits­ökonomie hat sich trotz intensiver Bemühungen nicht rekrutieren lassen. Vervollständigt wurde das Programm durch Reflexion auf eine zweite, vor allem in den angelsächsischen Ländern intensiver ge­führte gesund­heitspolitische Kontro­verse: den Streit um die „Rule of Rescue“, derzufolge dringliche Akutbehandlungen ggf. auch gegenüber kosteneffektiveren präventiven Maßnahmen Vorrang genießen. Eine generelle Metho­denreflexion über die Rolle der an diesen Kontroversen beteiligten Disziplinen in der wissenschaftlichen Politikberatung und ein öffentlicher Abendvortrag des Arbeitskreismitglieds Prof. Christoph Engel vervollständigten das Programm:

    • Gesundheitsökonomie per Sozialrechtsparagraph: Der Streit um die Kosten-Nutzen-Bewer­tung für Arzneimittel (Beiträge Huster, Lange)
    • Ethisches Urteil vs. Rationale Entscheidung: Der Streit um die „Rule of Rescue“ (Textbasis Lübbe; Beiträge Albert, Grosse-Wilde, Kaiser)
    • Normative Ethik, wertfreie Ökonomik? Zu den Rollen von Ethikern und Ökonomen in der Politikberatung (Textbasis Albert, Lübbe; Beiträge Paulo, Spohn, Wiersbinski)
    • Abendvortrag „Juristen und Ökonomen: Vertrieben aus dem Paradies der Zweisamkeit“ (Engel)

    Der Rückblick auf die konkreten Kontroversen hat im AK den Eindruck bestätigt und verstärkt, dass anhaltende Bemühungen um Austausch und um wechselseitige Übersetzung der tragenden Konzepte der beteiligten Disziplinen notwendig sind. Über die ethisch und juristisch zentrale, in politischen Kontroversen unvermeid­lich thematisch werdende normative Idee der Gerechtigkeit (etwa der Res­sourcenverteilung in der GKV) und über ihr Verhältnis zum ökonomischen Konzept der „Betroffenenprä­ferenzen“ wird von angewandten, politikberatend engagierten Ökonomen wenig reflek­tiert. Die Rücksicht auf insti­tutionell und kulturell etablierte Gerechtigkeitsideale, die schließlich auch die Betroffenenpräferenzen prägen, wird in den resultierenden Kontroversen dann von rechtlich ge­bundenen Praktikern und von Vertretern der Ethik angemahnt. Die gemeinsame Reflexion zu den Rol­len der Disziplinen in der Politikbera­tung und die eindrückli­chen Hinweise, mit denen im Abend­vor­trag die Ausbildung des heute do­minanten, an mathematischen und empirischen Methoden orien­tierten Wissenschaftsideals der Ökonomie charakterisiert wurde, machten deutlich, dass solche Ideale sich auch tiefliegenden meta­ethischen Positionierungen verdanken. Entsprechend kontrovers diskutiert wurde im Arbeitskreise die Wünsche und Werte nicht nur instru­mentell bedienende, sondern praxis­nah rekon­struierende sowie (sc. bei Verdacht des Vorliegens von Selbstmiss­verständ­nissen) kri­tisch ref­lektie­rende Kompetenz, die im Unterschied zu einem ausgebildeten Ökono­men ein ausge­bil­deter Ethi­ker in öffentliche Kontroversen einzuspeisen beansprucht.

  • 6./7. Dezember 2018: 2. Sitzung (nicht-öffentlich)

    Die Mitglieder und Gäste des Arbeitskreises sowie zwei Gastreferenten (Dr. Vuko Andrić, Universität Bayreuth; Prof. Dr. Martin Borowski, Universität Heidelberg) widmeten sich in dieser Sitzung dem Konzept des Abwägens als Metapher für rationales Entscheiden. Geeignete Textauszüge aus den einschlägigen verfassungsrechtlichen Kontroversen zur Bedeutung des dort sogenannten Verhältnismäßigkeitsprinzips wurden im Vorfeld zur Verfügung gestellt. Das Thema wurde unter den folgenden drei Aspekten behandelt:

    • Anforderungen und Logik der Waagemetapher (Beiträge: Albert, Borowski, Lübbe)
    • Abwägung vs. Spezifikation von Rechten (Beiträge: Andrić, Grosse-Wilde, Engel)
    • Abwägbarkeit der Menschenwürde (Beiträge: Gaertner, Kirstein, Zabel)

    Mehrere Punkte stellten sich im Verlauf der Sitzung als vertieft diskussionswürdig heraus – darunter die Frage, ob die verfassungsrechtsdogmatische Unterscheidung von Abwehrrechten und Schutzrechten dem Abwägungskonzept Grenzen setzt bzw. wie sie in dessen Rahmen rekonstruiert werden kann. Ausführlicher wurden mögliche formale und materiale Anforderungen an die Individuierung der abzuwägenden Items und an ihr wechselseitiges begriffliches Verhältnis thematisiert. Das Bedürfnis, zu den hier einschlägigen juristischen Unterscheidungen (Rechte vs. Staatsziele, Gleichheitsrechte vs. Freiheitsrechte, u.a.m.) und formalen Konzepten (u.a. „Separabilität“) zugleich konkreter und exakter zu werden, wird sich in den weiteren Sitzungsplanungen niederschlagen.

    Im Blick auf die dritte Sitzung im April 2019 hat sich der Arbeitskreis darauf geeinigt, zunächst exemplarisch eine politiknahe Kontroverse zum Thema zu machen, bei der sich Schwierigkeiten im Verhältnis von Ökonomie, Ethik und Recht konkret hinderlich ausgewirkt haben. Ausgewählt wurde die vor allem in den Jahren 2007-2011 intensiv geführte gesundheitspolitische Debatte um die Kosten-Nutzen-Bewertung für Arzneimittel.

  • 14./15. Februar 2018: Auftaktsitzung des Arbeitskreises (nicht-öffentlich)

    Die Mitglieder und Gäste des Arbeitskreises sowie ein Gastreferent (Dr. Bruno Verbeek, Universität Leiden) nutzten die Auftaktsitzung für Diskussionen über drei exemplarische Bereiche, die zwischen den Disziplinen zu grundlagentheoretischen Kontroversen geführt haben:

    • Rolle des Handlungsbegriffs in der Entscheidungstheorie (Beiträge: Lübbe, Rechenauer, Spohn)
    • Herausforderungen der Ökonomischen Analyse des Rechts (Beiträge: Albert, Kirstein, Zabel)
    • Möglichkeiten und Grenzen der Rekonstruktion von Fairness-Geboten in der Social Choice-Theorie (Beiträge: Engel, Gaertner, Verbeek).

    Mit diesen großen, in Halbtagen jeweils nur anzuschneidenden Themen war die Auftaktsitzung eine explorative Veranstaltung. Um die Diskussionen zu fokussieren, wurden geeignete Basistexte aus der einschlägigen Literatur den Beteiligten im Vorfeld zur Verfügung gestellt.

    Die beteiligten Disziplinen bzw. (in der Philosophie) Fachgebiete arbeiten in sehr unterschiedlichem Ausmaß mit formalen Methoden. Zugleich haben verschiedene zurechnungstheoretische Institute, die im Alltag und im Recht die Verwendung von Handlungsbegriffen und die Bewertung menschlichen Verhaltens steuern, in formaleren Begriffsrahmen kein Äquivalent. In der Diskussion waren daher an vielen Stellen zunächst wechselseitige Übersetzungsleistungen zu erbringen. Dabei wurde rasch die übergreifende Frage thematisch, ob es für solche Übersetzungsbemühungen zwischen den Disziplinen, von Missverständnissen abgesehen, auch grundsätzliche Hindernisse gibt. Im Verständnis einiger Vertreter handelt es sich beim entscheidungstheoretischen Begriffsrahmen lediglich um eine abstrakte Repräsentationsweise für das, was im Grunde alle (minimal vernünftigen) Entscheider und Entscheidungsbewerter, Alltag und juristische Praxis eingeschlossen, tun. Die Frage, was dann jene minimal vernünftigen Voraussetzungen genau wären und ob sie, jenseits der Bewertung als vernünftig, tatsächlich wert- und disziplinenneutral sind, wurde kontrovers diskutiert. In Entscheidungstheorie und Social Choice-Theorie üblicherweise akzeptierte Axiome, namentlich Unabhängigkeitsaxiome, wurden dabei ebenso zum Thema wie die Frage, ob – und wenn ja, in welchem Sinne genau – Rationalwahltheorien „konsequentialistisch“ sind.

    Uneinigkeit zeigte sich auch bei der Frage, ob das „Abwägen“ (von Gütern, Werten, Rechten, Gründen oder ganz generell von Faktoren oder Gesichtspunkten) zu den allgemeinen Bedingungen minimaler Vernünftigkeit gehört. Im Hinblick auf die Prominenz des Abwägungskonzepts auch in der Jurisprudenz, namentlich in der Verfassungsrechtsdogmatik, wurde die Frage nach dem Abwägen als Methode rationalen Entscheidens für eine genauere Bearbeitung in der nächstfolgenden Sitzung ausgewählt.

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