Arbeitskreis „Zurechnung. Geschichte und Gegenwart eines bedrohten Begriffs“
Zwischen der rechtsphilosophisch-juristischen und der entscheidungstheoretisch-ökonomischen Denktradition gibt es tiefreichende Divergenzen. Diese bedingen nicht nur unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für richtiges, darunter öffentliches, grundrechtlich gebundenes Entscheiden, sondern auch erhebliche wechselseitige Kommunikationsprobleme. In Kontexten der wissenschaftlichen Politikberatung, in denen die Beteiligten, anders als in der akademischen Forschung, einander nicht einfach ignorieren, aber auch nicht klärend in die Tiefe gehen können, äußert sich das in Form von stets wiederkehrenden, fruchtlosen Kontroversen zwischen Angehörigen der involvierten Disziplinen. Eine ernsthafte Bearbeitung der begrifflichen und methodischen Quellen dieser Dissense setzt spezialisierte grundlagentheoretische, aber auch ideen- bzw. dogmengeschichtliche Kenntnisse voraus.
Der Arbeitskreis setzt zur Bearbeitung der Spaltung am Konzept der Zurechnung an – einem alten handlungstheoretischen und naturrechtsphilosophischen Begriff, der heute als spezifisch juristisch gilt. Zurechnungstheorien formulieren Kriterien für die Abgrenzung von „Handlung“ und sonstigem Geschehen. Sie antworten, grob gesprochen, auf die Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen bestimmte Ereignisse einem Subjekt als seine Tat oder auch Unterlassung zugeordnet werden können mit der Folge, dass sie von ihm zu verantworten sind. In der entscheidungstheoretisch-ökonomischen Tradition gibt es für das Konzept der Zurechnung jenseits eines dünnen, meist implizit bleibenden Kausalitätsverständnisses kein Äquivalent. Als entscheidungsrelevant, genauer, als relevant für rationales Entscheiden gelten grundsätzlich alle zum Entscheidungszeitpunkt erwartbaren „Konsequenzen“ der verfügbaren Entscheidungsalternativen.
Dem entspricht die im Verhältnis zum Begriff der Entscheidung („decision“) oder Wahl („choice“) und deren Folgen („consequences“, „outcomes“) marginale Bedeutung des Konzepts der Handlung wie auch der zurechnungstheoretisch bedeutsamen Differenz von Tun und Unterlassen in Entscheidungstheorie und Social Choice-Theorie. Vielleicht gibt es aber dafür auch gute Gründe. Mit zunehmenden sozialen und kausalen Interdependenzen, bei institutionell komplex geregelten (etwa genehmigungsbasierten) Aktivitäten, angesichts wachsender Datenmengen zu erwartbaren Konsequenzen („statistical victims“) und mit fortschreitender technischer Vermitteltheit von Effekten (zum Beispiel beim autonomen Fahren) fehlt in mehr und mehr Kontexten so etwas wie eine „natürliche“, anschauliche Urteilsbasis für die Identifizierung dessen, was die Strafrechtstradition den „Tatbestand“ nennt („wer einen Menschen tötet …“). Sollte sich die Suche nach dem Zurechnungssubjekt dann nicht auf den effizientesten Schadensvermeider konzentrieren?
Neben der grundlagentheoretischen Bemühung um begriffliche und methodische Verständigung zwischen den disziplinären Paradigmen, die Rückblicke auf weichenstellende Textbeiträge zu ihrer Genese einschließt, sollen im Arbeitskreis auch aktuelle realgeschichtliche Veränderungen in Zurechnungsbedarf und Zurechenbarkeit sowie Ansätze zu ihrer begrifflichen Bewältigung in den beteiligten Disziplinen in den Blick genommen werden.