Modest Musorgskijs kreative Aneignung und Weiterentwicklung „westeuropäischer“ Modelle in seinen Liedern, Chören und Bühnenwerken
Modest Musorgskij (1839-1881) gehörte zu einem Kreis russischer Komponisten, der sich für eine spezifisch national gefärbte Musik eingesetzt hat.
Nach Einschätzung der Forschung haben er und seine Mitstreiter – darunter Alexander Borodin, César Cui und Nikolai Rimski-Korsakow – eine Musik aus dem Geist der russischen Lied- und Chortradition, der Volkstänze und der nationalen Geschichten und Mythen schaffen wollen. Dass sich Musorgskij bei der selbst gestellten Aufgabe aber auch an westeuropäischen Leitbildern orientierte und Einflüsse von deutschen, französischen und italienischen Musikern verarbeitete, ist in der Musikwissenschaft zwar immer wieder beobachtet worden, ohne jedoch die konkreten Vorbilder bzw. die Wege der kreativen Aneignung im Detail benannt und beschrieben zu haben. Ausgehend von der Beobachtung, dass Musorgskij bei seinen musikdramatischen Konzepten auf Vorbilder zurückgriff, die er u. a. bei Richard Wagner, Franz Liszt, Franz Schubert, Robert Schumann, Christoph Willibald Gluck, Giuseppe Verdi, Daniel-François-Esprit Auber und Giacomo Meyerbeer kennengelernt hatte, möchte Dr. Gero die Forschungslücke schließen und die kreative Aneignung und Weiterentwicklung „westeuropäischer“ Modelle in Musorgskijs Liedern, Chören und Bühnenwerken eingehend erforschen. Dabei spürt sie die Wege des künstlerischen Transfers auf unterschiedlichen Ebenen auf, belegt diese bezüglich der kompositorischen Technik, der dramaturgischen Modelle und der ästhetischen Konzepte und analysiert die Opern, Lieder und Chorwerke vor dem Hintergrund der nationalrussischen Selbstbeschreibung des Künstlers und im Kontext der russischen und westlichen Forschungsliteratur.
Die Studie gliedert sich in fünf Arbeitsphasen, wobei die Auswertung der literarischen Zeugnisse den Ausgangspunkt markiert. So werden einschlägige Briefe und Erinnerungen in den Nachlässen von Musorgskij und seinen Weggefährten recherchiert und analysiert, um nachzuvollziehen, welche westeuropäischen Werke als bekannt vorausgesetzt werden können und wie sich die russischen Musiker darüber ausgetauscht haben. In diesem Zusammenhang wird auch das Repertoire der Kaiserlichen Theater, das auf die Bekanntschaft Musorgskijs mit Werken westeuropäischer Musiker hindeutet, berücksichtigt. Anschließend werden die Opern Musorgskijs und der Einfluss der westlichen Oratorien- und Operntradition eingehend untersucht. Im Vordergrund steht hier die in einschlägigen Forschungen oft vernachlässigte Oper Chovanščina, wobei geklärt wird, inwiefern Musorgskij die westeuropäischen Modelle weiterentwickelt und dabei das angestrebte Ziel einer nationalrussischen Musik nicht aus den Augen verloren hat. Bei der Analyse werden Parallelen im Aufbau der Opernszenen, bei Figurencharakteristik und Leitmotiv-Technik sowie – mit Blick auf Richard Wagners Tannhäuser – bei der dramatischen Konzeption des Liebesdreiecks zwischen Andrej, Marfa und Emma untersucht. Besondere Aufmerksamkeit richtet Dr. Gero sowohl auf die „schöpferische Methode“ als auch auf die religiösen Motive, die gleichermaßen in den Kirchenszenen der westlichen Opern und im Opernschaffen Musorgskijs Ausdruck gefunden haben.
Sodann werden die Chorszenen und die eigenständigen Chorwerke sowie die Lieder Musorgskijs mit einschlägigen Werken der westeuropäischen Komponisten verglichen. Während bei den Opern vor allem die Bühnenwerke Giuseppe Verdis großen Eindruck hinterlassen zu haben scheinen, wird mit Blick auf die Lieder der Einfluss von Franz Schubert und Robert Schumann genauer untersucht, wobei sowohl auf die strukturellen und thematischen Veränderungen in Bezug auf den Aufbau des gesamten Zyklus als auch auf Form und Ästhetik der einzelnen Lieder geachtet wird. In diesem Zusammenhang werden die bislang noch nicht übersetzten kammermusikalischen Vokalkompositionen Musorgskijs ins Deutsche übertragen.
Im letzten Arbeitsschritt werden die Ergebnisse in einer anschaulich strukturieren Monographie dargestellt und Musorgskijs kreative Aneignung und Weiterentwicklung „westeuropäischer“ Modelle in seinen Liedern, Chören und Bühnenwerken anhand charakteristischer Beispiele abschließend beschrieben.