Die historisch-kritische Edition von Jean Pauls (1763-1825) „Flegeljahren“: Die unbekannten handschriftlichen Vorarbeiten nebst Edition des Drucks (1804/05)
Mit seinen ausgefeilten autoreferentiellen Reflexionen und seiner Auffassung von Schriftlichkeit als Wirklichkeitskonstitution gilt Jean Paul als eine Schlüsselfigur der Ästhetikgeschichte um 1800 und als Wegbereiter der literarischen Moderne.
Das Werk Jean Pauls bildet zudem ein wichtiges Untersuchungsfeld der Schreibforschung, v. a. mit dem noch weitgehend unpublizierten handschriftlichen Nachlass von ca. 40.000 Seiten. Er besteht aus Exzerptheften und äußerst vielgestaltigen und -deutigen Notizen ohne nachvollziehbare Entwicklungen. Das Nachlassmaterial erlaubt, die Bewegung einzelner Motive von den Exzerpten bis in die gedruckten Werke zu beobachten und bildet Charakteristika der Druckfassungen (Anspielungsreichtum, Vernetzung, Diskontinuität etc.) potenziert ab. Die Notate gehören nicht nur textgenetisch, sondern auch im Denken Jean Pauls – der sie als Teil eines ‚work in progress‘ hin auf ein allumfassendes ‚Schreib‘-Werk verstand – mit den gedruckten Texten untrennbar zusammen.
An der von Dr. Hunfeld geleiteten Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition der Universität Würzburg wird sein Werk in mehreren Projekten erschlossen (www.jean-paul-portal.uni-wuerzburg.de). Eine textgenetisch orientierte, historisch-kritische Edition seiner Werke („Hesperus“, „Siebenkäs“, „Vorschule der Ästhetik“ etc.) stellt deren Druckfassungen synoptisch dar, verzeichnet die Varianten und erschließt die zugehörigen Handschriften. Aus dem Nachlass sind über 4.000 Seiten (16.000 mit den zugehörigen Exzerpten) bearbeitet und die Editionsrichtlinien (ca. 100 Seiten) veröffentlicht. Die 1998 begonnene digitale Edition der Exzerpthefte ist eine der meistzitierten Quellen zu Jean Paul und zur Schreibforschung.
Das hier beschriebene Projekt bildet ein Brückenglied zwischen bereits Geleistetem und künftiger Erschließung. Es zielt auf die historisch-kritische Edition von Jean Pauls Roman „Flegeljahre“ mit ca. 1000 Seiten sowie des zugehörigen Handschriftenmaterials aus den Jahren 1795-1805.
Mit den „Flegeljahren“ wurde dabei ein repräsentativer Werkausschnitt gewählt, der erstens – verglichen mit anderen Werken Jean Pauls – in seinem Umfang ein überschaubares Arbeitspensum bedeutet (der Roman liegt nur in einer Druckfassung vor) und der zweitens die Forschung seit ca. 100 Jahren intensiv beschäftigt. An ihm lassen sich exemplarisch Spannungen beobachten, die Jean Pauls Gesamtwerk kennzeichnen: zwischen Klassik und Romantik, Fragment-Charakter und Vollendung etc. Weitere Forschungsfelder betreffen die „Flegeljahre“ als ‚Wortkunstwerk‘, ihre Modernität (Verschachtelungen, Selbstreflexivität), intertextuelle Bezüge oder Spezialfragen (Biographik, Geschwisterthematik). Die historisch-kritische Edition des Romans ist ein Desiderat, weil die aktuell wissenschaftlich verwendeten Ausgaben von einem hohen Grad an druckgeschichtlicher Korruption gekennzeichnet sind.
Geplant ist die Buchpublikation, verbunden mit einem ausgefeilten elektronischen Unterbau.
Das Editionskonzept aller Bände vermittelt zwischen Bewahrung der historischen Textgestalt und angestrebter Lesbarkeit. Textgrundlage für die Romanedition wird der einzige vom Autor autorisierte Textzeuge sein: der Druck von 1804/05 in vier Bänden bei Cotta, dessen historische und heterogene Schreibweisen, Autorirrtümer etc. bewahrt werden. Die Edition der Handschriften folgt den dafür bereits etablierten und bewährten Prinzipien: v. a. Erhaltung und Dokumentation des Schreibwerkstatt-Charakters; seiten- und zeilengetreue Darstellung; Abbildung aller strukturierenden Elemente (Titelblatt, Überschriften, Unterstreichungen, etc.); Wahrung von Orthographie und autorspezifischen Abkürzungen; Kennzeichnung unsicherer Lesarten; Verzeichnung sämtlicher Varianten und Emendationen in einem lemmatisierten Apparat; Erschließung durch Register etc.