Vanitas in den Künsten der Gegenwart
Warum tritt gerade jetzt ein Thema zu Tage, das seit dem Fin de Siècle keine größere Beachtung mehr gefunden hat?
Von Ausnahmen abgesehen war das Vanitas-Motiv nach dem Ende des 17. Jahrhunderts aus den Künsten weitgehend verschwunden. Erst in jüngster Zeit lässt sich wieder eine auffällige und insofern erklärungsbedürftige Rekursivität auf das Vanitas-Motiv in Kunst, Literatur und Theater nachweisen. Aber warum tritt gerade jetzt ein Thema zu Tage, das seit dem Fin de Siècle keine größere Beachtung mehr gefunden hat? Die Gründe für ein Aufleben eines frühneuzeitlichen Motivs nach einer derart langen Inkubationszeit sind nach wie vor unklar. Da das ursprüngliche Denkmodell der Vanitas über den bloßen Hinweis auf die eigene Hinfälligkeit weit hinausgeht und meist im Zusammenhang mit Reue und der Aufforderung zur Umkehr etc. steht, muss geklärt werden, ob die Inszenierung von Totenschädeln, das performative Ausstellen von verwesenden Früchten und Tieren oder das Zelebrieren misogyner Weltverachtung in der Literatur etc. tatsächlich als Rekurse auf den Vergänglichkeitstopos zu verstehen sind und ob sie von Lesern und Betrachtern als solche auch verlässlich dechiffriert werden. Daher soll im Rahmen des Projektes gezeigt werden, welche Facetten des Motivs in der Gegenwartskultur aufgegriffen, parodiert oder semantisch neu bewertet werden.
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Vanitas-Motiv in der Gegenwartskultur hat bisher nicht stattgefunden. Ziel ist es daher, die Forschungslücke mit Blick auf die theoriegeleitete Reflexion des Phänomens der Wiederkehr zu schließen und Bedeutungsverschiebungen in Bezug auf Verständnis und Codierung des Motivs herauszuarbeiten. Neben Theorieansätzen zu Wiederholung, Rekursivität und Transformation stehen zeittheoretische Überlegungen im Fokus des Projekts. Prof. Benthien und Prof. von Flemming erwarten in der interdisziplinären Zusammenarbeit Synergieeffekte und komplementäre oder auch einander kritisch reflektierende Forschungsergebnisse, da sich das Vanitas-Motiv in Literatur, bildender Kunst und Theater auf unterschiedliche Weise darstellt.
In der Untersuchung nehmen die beteiligten Mitarbeiterinnen historische und intermediale Vergleiche in den Bereichen Lyrik, Prosa, Theater, Installationskunst, Videokunst, Fotografie vor und führen Querschnittsanalysen zentraler Vanitas-Motive sowie „close readings“ einzelner Werke unter dem Epochencode „barocke Vergänglichkeit“ durch.
Als genreübergreifende Fragestellungen wurden vier Forschungsperspektiven entwickelt: Im Bereich „Symbolik der Vanitas“ werden die mit Wiederholung einhergehenden Resemantisierungen, Inversionen, Komisierungen oder auch Entleerungen in den zeitgenössischen Künsten untersucht. Unter der Überschrift „Ästhetik der Vanitas“ werden Materialität, Medialität und damit einhergehende Reflexionen von Zeitlichkeit sowie phänomenologische Aspekte der Erfahrbarkeit von Vanitas in den Blick genommen. Die dritte Untersuchungsperspektive, „Anthropologie der Vanitas“, thematisiert künstlerische Auseinandersetzungen mit Endlichkeit und Mortalität sowie die Spannung von Selbst- und Fremdbestimmtheit, Macht und Ohnmacht. Darüber hinaus wird unter der Überschrift „Kritik der Vanitas“ das kritische Potenzial aktueller künstlerischer Ausprägungen des Motivs ausgelotet. Das umfasst die dialektische Einheit von „carpe diem“ und Lebensklage ebenso wie eine daran geknüpfte, nicht selten moralisch fundierte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen.