Realität und Virtualität. Zur Phänomenologie und Psychopathologie virtueller Welten
Die Unterscheidung von Sein und Schein, von Realität und Virtualität ist für das menschliche Bewusstsein von zentraler Bedeutung.
Sie manifestiert sich grundsätzlich in einem Bewusstsein des „Als-ob“, das die Tätigkeit der Phantasie, der Imagination und den Umgang mit virtuellen Welten von vorneherein begleitet, das sich andererseits beim Durchschauen von Täuschungen und Illusionen auch rückwirkend einstellt.
Die Fortschritte der Digitalisierung, der medialen Kommunikation und der Virtuellen Realität erzeugen nun zunehmend ambivalente Erfahrungsräume, in denen sich die Unterscheidung zwischen Sein und Schein, Original und Simulation, leiblicher und virtueller Präsenz aufzulösen beginnt. Damit geht nach der Hypothese des Projekts ein Schwinden des kritischen „Als-ob“-Bewusstseins einher. So weist etwa die Ausbreitung von Parallelwelten („Echokammern“, „Filterblasen“, Verschwörungstheorien) in den sozialen Medien darauf hin, dass die Unterscheidung von Faktum und Fiktum zunehmend in Frage steht.
Das Projekt hat zum Ziel, in zwei Teilprojekten
- die ontologische Unterscheidung von Realität und Virtualität aus phänomenologischer und verkörperungstheoretischer bzw. enaktivistischer Sicht aufzuklären und
- deren zunehmende Nivellierung auf mögliche psychopathologische Dimensionen hin zu erforschen.
Das Projektteam um Prof. Fuchs bedient sich dazu sowohl theoretisch-phänomenologischer als auch qualitativ-empirischer Methoden.
Im theoretisch-phänomenologischen Teilprojekt werden zunächst die Begriffe von Realität, Virtualität, Fiktionalität, Simulation, Immersion u. a. konzeptualisiert. Es wird auf dieser Basis die Unterscheidung von Realität und Virtualität untersucht, ausgehend von der Hypothese, dass diese wesentlich (a) durch verkörperte Interaktionen und Widerstandserfahrungen und (b) durch intersubjektive Perspektivenübernahme und Verständigung konstituiert wird. Es wird weiter die mögliche Bedeutung einer Reduktion verkörperter Erfahrungen und zwischenleiblicher Intersubjektivität („Disembodiment“) für die Wahrnehmung und den Realitätsbezug der Individuen in der gegenwärtigen Kultur analysiert.
Im phänomenologisch-psychopathologischen Teilprojekt wird dies mit qualitativ-empirischer Methodik untersucht, ausgehend von der Hypothese, dass die Virtualisierung der Kommunikation Pathologien wie paranoide Erlebnisverarbeitung und Einkapselung in virtuellen Räumen strukturell fördert. Dazu wird das Selbst- und Welterleben von Patientinnen und Patienten/Probandinnen und Probanden mit (a) paranoiden Psychosen, (b) Verschwörungsideen und (c) extremer sozialer Isolation im „Hikikomori“ und bei internetbezogenen Verhaltenssüchten mit Hilfe phänomenologischer Tiefeninterviews untersucht.
Die Resultate werden in enger Kooperation beider Teilprojekte hinsichtlich möglicher Rückschlüsse auf das Verhältnis von Verkörperung, Realität und Virtualität analysiert. Damit soll insgesamt ein Beitrag zu einem Verständnis der Konstitution von Realität ebenso wie des gesellschaftlich hochrelevanten Zusammenhangs zwischen der Virtualisierung der Lebenswelt und sozialpathologischen Phänomenen geleistet werden.