Made by Haydn? Studien zu Joseph Haydn fälschlich zugeschriebenen Werken
Keinem anderen Komponisten wurden jemals so viele Werke fälschlich zugeschrieben wie Joseph Haydn.
Die Fehlzuschreibungen erfolgten entweder mit Absicht – weil sich ein Notendruck oder die Abschrift einer Komposition besser vermarkten ließ, wenn der weltberühmte Haydn als Autor angegeben wurde – oder in gutem Glauben, wenn man die Qualität eines nicht zugeschriebenen Werks nur mit der Genialität des Meisters zu erklären glaubte. Einige dieser Fehlzuschreibungen gehören zu den bis heute bekanntesten „Haydn“-Werken überhaupt, so etwa die Streichquartette „op. 3“ (Hob. III:13–18), die Kindersinfonie (Hob. II:47*) oder die sechs Feldpartien (Hob. II:41*–46*) mit dem Chorale Sancti Antonii, den Johannes Brahms für seine Variationen über ein Thema von Joseph Haydn wählte. Bei den meisten dieser Werke konnte längst nachgewiesen werden, dass sie nicht von Haydn stammen, in einzelnen Fällen hat man sogar den wahren Autor ermitteln können. Allerdings sind die einschlägigen Erkenntnisse entweder gar nicht oder nur mit großer Verzögerung wahrgenommen worden, sodass sich nach wie vor zahlreiche Fehlzuschreibungen unter Haydns Namen im Umlauf befinden.
Ausgangspunkt der Untersuchung bilden die am Joseph Haydn-Institut Köln systematisch gesammelten Quellen. Den knapp 1.200 gesicherten Werken Haydns stehen rund 1.300 Fehlzuschreibungen gegenüber, wobei Anzahl und Art der fälschlich zugeschriebenen Werke je nach Gattung, Ort und Zeit sehr unterschiedlich ausfallen. Da das Phänomen der Fehlzuschreibungen als solches bislang noch nicht eingehend untersucht und bislang noch keine umfassende Sichtung und Auswertung dieses sehr inhomogenen Bestandes unternommen worden sind, möchte das Projektteam auf der Grundlage einer vollständigen Bestandsanalyse und mittels stilkritischer Untersuchungen klären, welche Mechanismen des damaligen Musikmarkts zu diesen Fehlzuschreibungen geführt haben. Dabei wird die Arbeit vorrangig auf die in der Musikwissenschaft etablierten philologischen Methoden der Quellenkritik und der wissenschaftlichen Notenedition rekurrieren. Komplementär zu der im Rahmen der Haydn-Gesamtausgabe geleisteten autorzentrierten Editionspraxis liefern die Echtheitskritik und die Korrektur von Zuschreibungen neben einer Vielzahl bislang unentdeckter namentlicher Urheber vor allem Hinweise auf Entstehungs-, Aufführungs- und Distributionsbedingungen von Musikwerken unterschiedlicher Genres und Provenienzen.
Im Rahmen der grundlegenden Studie zu den Joseph Haydn fälschlich zugeschriebenen Werken und ihrer Provenienz wird geklärt, wie sich die Fehlzuschreibungen auf die einzelnen Gattungen verteilen und woher sie stammen. Gibt es Orte, an denen sie besonders häufig auftreten? Besteht eine Korrelation zwischen Herkunftsort und Gattung? Wer sind die Hauptverursacher der Fehlzuschreibungen und zu welchen Zeiten sind Fehlzuschreibungen entstanden? In welchem Maße lässt sich die falsche Etikettierung als Ausdruck einer Wertschätzung des betreffenden Werkes ansehen und inwieweit muss es stilistisch und qualitativ Haydn nahestehen, um unter seinem Namen verbreitet zu werden? Ferner wird in diesem Projektbereich erörtert, wie oft Werke anonym überliefert worden sind, denn erst dadurch hat sich die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit der falschen Etikettierung seitens der Verlage und Kopistenwerkstätten ergeben. Wo liegt die Grenze zwischen Fehlzuschreibung und Fälschung? Eine detaillierte Beantwortung dieser Fragen wird einen wesentlichen Beitrag zur Musikgeschichtsschreibung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts leisten.