Der bioskopische Raum. Der Einfluss der Wahrnehmungspsychologie und des Films auf die Gestaltung des »Raumes für konstruktive Kunst« (El Lissitzky, Internationale Kunstausstellung 1926 in Dresden)
Die Besucher des »Raumes für konstruktive Kunst« sollten abstrakte Kunstwerke – je nach Blickwinkel – vor einer weißen, grauen oder schwarzen Wand anschauen und zu einem dynamischen Betrachten in Bewegung animiert werden.
Im Jahr 1926 wurde El Lissitzky (1890-1941) von der Leitung der Internationalen Kunstausstellung Dresden, namentlich von dem Kurator Hans Posse und dem Architekten Heinrich Tessenow, beauftragt, einen »Raum für konstruktive Kunst« zu gestalten. Der Entwurf sah vor, in einem abgedunkelten Raum Werke von El Lissitzky, Piet Mondrian, László Moholy-Nagy, Francis Picabia, Willy Baumeister und Oskar Schlemmer vor einer speziellen Wandgestaltung zu präsentieren: Vor durchgängig grau gestrichene Wände stellte Lissitzky vergleichsweise tiefe Metalllamellen, die im Wechsel schwarz und weiß bemalt waren. Mit der Farbgestaltung sollte der Besucher, der die Werke – je nach Blickwinkel – vor einer weißen, grauen oder schwarzen Wand anschauen konnte, zu einem dynamischen Betrachten in Bewegung animiert werden.
Das Forschungsprojekt widmet sich diesem temporär eingerichteten »Raumkunstwerk«, das für die kuratorisch-museale Szenografie der Moderne wegweisende Bedeutung hatte. Beispielgebend war nicht nur der Raum, sondern auch die gesamte Ausstellung, die dem Leiter der ersten documenta (1955) in Kassel als Vorbild gedient haben soll.
Da sich die Kunstwissenschaft weniger für das »Raumkunstwerk« als für den Nachfolgeraum – das »Abstrakte Kabinett« (1926–28) im damaligen Provinzialmuseum Hannover (heute: Niedersächsisches Landesmuseum) – interessiert hat, setzt sich Prof. Hemken im Rahmen der Studie mit dem ursprünglichen Raumkonzept der Dresdner Ausstellung auseinander. Im Vorfeld der Untersuchung hat sich bereits gezeigt, dass Lissitzky bei den beiden Räumen offenbar von unterschiedlichen Voraussetzungen ausging. War in Hannover das universitär-wissenschaftliche Museumskonzept eines Kurators (Alexander Dorner) maßgeblich und bindend, so scheint Lissitzky in Dresden offenbar freier in der Wahl der Mittel gewesen zu sein. Es wird nun geprüft, ob und inwieweit der Künstler durch wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse und Phänomene des Films bzw. der Filmvorführung beeinflusst worden ist.
Während das Sprengel Museum Hannover im Zuge des Neubaus das »Abstrakte Kabinett« erneuern möchte, ist die Rekonstruktion des Dresdner Raumes als Bestandteil der Ausstellung »Abstrakt-konstruktiv. Präsentation und Rezeption gegenstandsloser Kunst von 1923 bis 1933 in Dresden« geplant, die 2016/17 in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gezeigt werden soll. Die in dem Forschungsprojekt erzielten Ergebnisse werden die wissenschaftliche Grundlage für die vorgesehenen Rekonstruktionen in Hannover und Dresden bilden.