Das Denken an den Rändern: Zeitgenössische Literatur und Kunst in Brasilien
Indigene und afrobrasilianische Künstler sind erst ca. seit dem Jahr 2000 zunehmend in der offiziellen Kultur Brasiliens präsent.
Die brasilianische Kultur verdankt sich, so will es das seit dem 19. Jahrhundert dort herrschende Ursprungsnarrativ, einer harmonischen „mestiçagem“ („Rassenmischung“) von Portugiesen, „Indianern“ und Afro-Brasilianern. Dieses Konstrukt – v. a. zur Absetzung von der ehemaligen Ko-lonialmacht Portugal entstanden, im romantischen „Indianismo“ popularisiert und bis heute in Telenovelas reproduziert – blendet aus, dass Brasilien erstens politisch aus kolonialen Gewalttaten gegen die indigene und afrobrasilianische Bevölkerung und zweitens kulturell, jenseits friedlicher Assimilation, aus vielfachen Mechanismen von (Zwangs-)Akkulturation oder Exklusion der nicht-europäischstämmigen Bevölkerung hervorging, die als „maskierter Rassismus“ – scheinbarer Einbeziehung bei tatsächlicher Ausgrenzung – die Sozialstruktur des Landes bis heute prägen.
Als eine Folge davon sind indigene und afrobrasilianische Künstler erst ca. seit dem Jahr 2000 zunehmend in der offiziellen Kultur Brasiliens präsent. Prof. Berger nimmt solche Werke nicht-europäischstämmiger Künstler in den Blick: als ein „Denken an den Rändern“, das mit marginalisierten Denktraditionen und randständigen Formen und Gattungen (Tafelbild, Installation etc.), mit medial vermittelter Mündlichkeit (‚sekundäre Oralität‘ in Audioaufnahmen etc.), Konzeptmetaphern und Transformationen von Gattungsmustern arbeitet, um indigenen und afrobrasilianischen Identitäten Profil zu verleihen. Die Werke, so die Leithypothese, weisen eine eigene Erkenntnisdimension auf und werden deshalb als „subjects of cultural analysis“ (Gegenstände und zugleich Apparate kultureller Analyse) behandelt.
Für das Korpus erwogen werden ca. 13 solcher Werke: Gedichte, Erzählprosa, Videokunst, Installationen, Gemälde und Performances (die definitive Auswahl wird erst nach Forschungsreisen im August 2021 getroffen werden).
Beleuchtet wird etwa ein Künstlerbuch der Afrobrasilianerin Rosana Paulino (2016), das mit seiner sperrigen Haptik (ausklappbarer bedruckter Stoff, durch grobe Nähte mit den Buchseiten verbunden, lose, verzwirnte Fäden) Reflexionen über das Mediendispositiv Buch hervortreibt und als Ganzes die Gewalt versinnlicht, die an nicht-europäischstämmigen Menschen verübt wurde. Ebenfalls bedacht wird eine ungenehmigte Intervention von Denilson Baniwa (vom Volk der Baniwa) auf der 33. Biennale von São Paulo (2018), von der indigene Künstler ausgeschlossen waren. Mit Jaguarmaske und -fellumhang bekleidet (als Zitat schamanischer Rituale und einheimischer Ontologien) kniete er vor großformatigen unbeschrifteten Fotografien eines durch Genozid ausgelöschten feuerländischen Volkes nieder, übte Kritik an Unterdrückung und kunsthistorischer Ausgrenzung, dokumentierte die Performance per Video und betitelte sie mit dem Computer-Begriff des „Hacking“.
Alle für das Korpus ausgewählten Werke werden zunächst einem gattungs- und medienanalytischen close reading unterzogen: auf die sich darin durchdringenden Denktraditionen und -formen sowie ihre ästhetischen Verfahren, wobei jeweils die mediale Gestaltung speziell beachtet wird.
Um Gemeinsamkeiten und Differenzen der Werke zu bestimmen, werden sie zudem durch drei komplementäre Zugänge zueinander in Beziehung gesetzt: durch ein ‚Kartographieren von Denkfiguren‘; eine Zusammenstellung signifikanter Elemente in einem digitalen ‚Bilderatlas‘, der rekurrente Muster und Elemente erschließen und funktional beschreiben soll, und eine Korrelation der Werke mit ihren historisch-kulturellen Kontexten im Sinne der ‚Verflechtungsgeschichte‘. Flankierend werden sie mit theoretischen Aussagen zu indigenen und afrobrasilianischen Denktraditionen verknüpft, wobei die Kunst nicht lediglich zur Illustration der Theorie dient, sondern in ihrem eigenen Erkenntnisertrag für die Theoriedebatten gewürdigt wird.