Bildungsnetzwerke im Wandel. Tiefenerschließung der Stammbücher der Staatsbibliothek Bamberg
Der Bestand an Stammbüchern des 16. bis 20. Jahrhunderts in der Staatsbibliothek Bamberg umfasst mehr als 700 Objekte. Er stellt eine der bedeutendsten Sammlungen in ganz Deutschland dar.
Stamm- oder Freundschaftsbücher (auch „Alba amicorum“ oder Philotheken genannt) gibt es im deutschsprachigen Raum seit der Mitte des 16. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei meist um kleinformatige, leicht transportable Bücher oder um Kassetten mit losen Einzelblättern, in denen man mit Sinnsprüchen und oft mit Illustrationen angereicherte persönliche Widmungen sammelte. Auch auf (Bildungs-)Reisen konnte man derartige Büchlein mitführen, um Bekanntschaften mit hochgestellten Persönlichkeiten und Besuche bei Freunden und Verwandten zu dokumentieren und die Erinnerung daran wachzuhalten.
Entstanden im Umkreis der Universität Wittenberg, kamen Stammbücher schnell an vielen Hochschulen in Gebrauch. Zu den Besitzern und Einträgern von Stammbüchern zählten neben Schülern und Studenten auch Angehörige des Adels, des Klerus und der städtischen Ober- und Mittelschicht (u.a. Beamte, Juristen, Ärzte, Lehrer, Kaufleute, Militärs, Handwerker, Musiker). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts legten dann zunehmend auch Frauen derartige Alben an. Durch die individuelle Gestaltung der autographen Einträge und künstlerische Beigaben entstanden Blätter von beachtlicher visueller Attraktivität. Im „Poesiealbum“ des 19. und 20. Jahrhunderts gewann diese Tradition breite Popularität und entwickelte sich zu einem Massenphänomen, dessen letzte Ausläufer die noch im Zeitalter von Facebook und Instagram an Grundschulen beliebten vorgedruckten Bücher mit Fragebögen zum Ausfüllen und Bebildern darstellen.
Stammbücher spiegeln den Wandel der Freundschaftskultur in verschiedenen sozialen Milieus in der (Frühen) Neuzeit. Sie bilden gesellschaftliche Hierarchien und Näheverhältnisse ab und bieten Raum für die Selbstdarstellung in Bild und Text, die Demonstration künstlerischer Fertigkeiten und sprachlicher Gewandtheit. Stammbücher eignen sich gerade deswegen für breit angelegte Studien zu den Akteuren in bildungsbiographischen Netzwerken und zu Konzepten von Freundschaft bei jungen Menschen, aber auch zur Untersuchung der pragmatischen Funktionalisierung von Text- und Bildzitaten in solchen Beziehungsgeflechten.
Ziel des Projekts ist zunächst die vollständige (Grund-) Erschließung aller in der Staatsbibliothek Bamberg vorhandenen Stammbücher einschließlich Einzelblättern und stammbuchartigen Alben in den einschlägigen bibliothekarischen und fachwissenschaftlichen Nachweisinstrumenten. Darüber hinaus ist eine wissenschaftliche Tiefenerschließung für die Stammbücher der Frühen Neuzeit (ca. 1530 bis ca. 1830) vorgesehen, die eine Verzeichnung aller Einzeleinträge in den Büchern und deren Verfasser sowie ikonographische Angaben zu den Illustrationen umfassen wird. Die handschriftlichen Stammbücher der Frühen Neuzeit sowie alle in der Graphischen Sammlung vorhandenen Einzelblätter werden in vollständiger Reproduktion auf der Webseite der Staatsbibliothek Bamberg zugänglich gemacht und mit Stammbuchbeständen in anderen Bibliotheken (u. a. Weimar, Tübingen, Dresden) vernetzt. Als Plattform für die Tiefenerschließung wird aufgrund der Möglichkeiten zur sammlungsübergreifenden Vernetzung „Kalliope“, die von der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz aufgebaute Verbunddatenbank für Nachlässe und Autographen, genutzt werden. Nach Abschluss des Projekts soll eine Auswahl von Stammbüchern in einer Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg präsentiert werden.
Mit dem Projekt wird ein Beitrag zur Grundlagenforschung geleistet. Es ermöglicht eine Nutzung des Bamberger Bestands durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einschlägiger Fachrichtungen (insbesondere aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft sowie der Kunstgeschichte) für ein breites Spektrum an Fragestellungen. Durch die Erschließung werden provenienzgeschichtliche, prosopographische und genealogische Forschungen ebenso angeregt werden wie Analysen im Rahmen der Universitäts-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte.