Wer’s baut, wird selig. Von der Selbstdarstellung zur Legende in literarischen Selbstzeugnissen deutscher Ingenieure zwischen 1880 und 1933
Die Modernisierungsgeschichte wird heute meist als Prozess einer „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) und einer progressiven Säkularisierung verstanden. Dieses Metanarrativ sieht Dr. Böhmer als Vereinseitigung an und will zu ihrer Korrektur beitragen, indem er an einem von der Forschung bislang marginalisierten Korpus aus der Kernzeit und dem ideellen Umfeld der Hochindustrialisierung aufzeigt, wie hier religiöse Strukturen und Denkfiguren fortgeführt werden.
Beleuchtet werden Autobiographien von Ingenieuren, die oft auch als Unternehmer, Erfinder oder Forscher tätig waren: 26 Texte aus dem Zeitraum 1880-1933 (unter Einbeziehung weiterer Quellen wie Briefe und Tagebücher). Sie werden erstmals systematisch literaturwissenschaftlich analysiert und in ihrer Bedeutung für das geschichtsphilosophische Großnarrativ von Technik dargestellt.
Leitend ist folgendes Thesengerüst: Die massive Industrialisierung seit 1850 ging zunächst nicht mit soziokultureller Anerkennung für die Ingenieure einher. Darauf reagierten diese mit einer Selbsterhebung, für die sie v. a. zwei literarische Gattungen funktionalisierten: erstens die Autobiographie, indem sie sich selbst in deren topischen Segmenten (Elternhaus, Kindheit, Auszug von Zuhause, Widerstandsüberwindung, Erfolg, gesegnetes Alter) erzählten; schon darin lag ein Anspruch auf Wahrnehmung in der Hochkultur. Innerhalb der Autobiographik adaptierten sie zweitens die Gattungsform der Legende, d. h. die Lebensbeschreibung erwählter Menschen, die das Wirken einer zeitlosen Wahrheit in der kontingenten Welt sichtbar machen (wodurch die Gattung auch jeweils einen Bezug zur Wirklichkeit impliziert). Vor allem wurden drei Konstituenten bzw. Schritte der Legenden-Struktur nachgebildet, die André Jolles in seiner Studie „Einfache Formen“ (1930) benennt: tätige Tugend, Wunder (vergegenständlicht im technischen Werk) und Heiligsprechung, d. h. Anerkennung durch Institutionen, Preise etc.
Dr. Böhmer will in systematischen Analysen – auch vor dem Hintergrund historischer Veränderungen des Legendengenres selbst – den Zusammenhang zwischen den narrativ-strukturellen und den semantisierenden, d. h. Heiligkeit bedeutenden Elementen der Legende herausarbeiten und zeigen, wie sich die Ingenieure damit zu Zeugen einer höheren Wahrheit und als Exempel für die Leser stilisieren.
Die zu untersuchenden Texte werden in zwei chronologische Phasen aufgeteilt: dreizehn Texte aus dem Zeitraum 1880–1918 und dreizehn Texte aus dem Zeitraum 1919–1933. Angesichts der quantitativen Zunahme wird auch gefragt, ob das Selbstdarstellungsbedürfnis der Ingenieure während des Untersuchungszeitraums oder durch den Weltkrieg wächst und ob es einem nachweislich gesteigerten Selbstbewusstsein entspricht; außerdem wird geprüft, inwiefern das so florierende Genre – als ein bewusst gepflegtes ‚literarisches Erfolgsformat‘ – auch als ein Teil der wachsenden Integration der Technik in den Alltag zu sehen ist. Textintern richtet sich das Augenmerk auf das Verhältnis von Autor und Erzähler, von behaupteter Faktizität des Erzählten und Fiktionalisierung (hier wird an das Konzept der ‚Autofiktion‘ aus jüngerer Forschung angeknüpft) und auf die Differenz zwischen dem Erzählzeitpunkt und der erzählten Zeit, die in den Texten v. a. als technikhistorisch markierte erscheint, da der Schreibende darin einen Fortschritt herbeigeführt hat. Nicht zuletzt sollen die Analysen reflektieren, dass in den Texten nicht das Werden des Ich, sondern sein stetiges So-Sein vom Standpunkt des schreibenden Ich Gegenstand und zentrales Konzept ist: Entspricht die so erzielte ‚narrative Stabilität‘ der Stabilitätsverheißung technischer Arbeit? Spiegelt bzw. markiert die Textbeherrschung des Autors den Führungsanspruch des Ingenieurs, der darin seine Weltbeherrschung durch Technik abbildet?