Förderung Geförderte Vorhaben „Escrituras andantes“. Text- und Schriftkonzepte im frühneuzeitlichen Drama bei Fernando de Rojas, Ludovico Ariosto, Niccolò Machiavelli und Théodore de Bèze

„Escrituras andantes“. Text- und Schriftkonzepte im frühneuzeitlichen Drama bei Fernando de Rojas, Ludovico Ariosto, Niccolò Machiavelli und Théodore de Bèze

Welcher Wandel von Text- und Schriftkonzepten begleitet den Übergang von der Manuskript- zur Buchkultur im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert?

Dr. Kilian nimmt an, dass vorrangig das Drama die damaligen Konflikte um textuelle Autoritäten und Ontologien zugespitzt reflektiert: d. h. dass es verarbeitet, wie die geographisch breite Massenzugänglichkeit von Schrift das Textverständnis veränderte, dass es dabei selbst – vor dem Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzenden Aristotelismus – noch mit neuen Textkonzepten und Darstellungsformen experimentiert und durch den medialen Wandel aus seinen antiken und mittelalterlichen Traditionen gelöst und zu seiner modernen Gestalt geprägt wird. Konkret richtet sich Dr. Kilians Blick auf explizite und implizite Reflexionen der Text- und Schriftkonzepte in Dramen der westlichen Romania (Frankreich, Spanien, Italien) von ca. 1500 bis 1550.

Hinsichtlich des Verhältnisses von Drama und Buchdruck geht Dr. Kilian von Folgendem aus: Ein zentraler Problembegriff der Zeit ist die ‚copia librorum‘, der Bücherüberfluss. Ihn versteht er v. a. als Chiffre für ein Konzept der Schriftentwertung und der inhaltlichen Kontingenz. Denn der Buchdruck bedeutet jenseits der technischen Revolution v. a. einen hermeneutischen Wandel: die Auflösung der mittelalterlichen, institutionell gelenkten und lokal stark gebundenen Rezeptionsprozesse. Die nun mögliche Massenproduktion und geographisch breite Streuung von Texten eröffnet in der Rezeption ein Feld vorher ungekannter Varianz. Auf diese Offenheit sind Dramen speziell vorbereitet, weil sie stärker als andere Textsorten eine Heterogenität des Publikums einkalkulieren und mit ihr gestaltend umgehen. Zugleich sind sie in den medialen Wandel besonders prominent involviert: als eine der erfolgreichsten Literaturgattungen auf dem jungen Markt – an der sehr modernen Schnittstelle zwischen Publikationsinnovation, literarischer Ambition, politisch-kultureller bzw. religiöser, aber auch erotischer Motivation und ökonomischer Determination. Ihre breite Rezeptionsfortune erklärt Dr. Kilian v. a. aus einer spezifischen Vermittlungsleistung der Dramen, insbesondere der Komödien: Da sie als neues Massenmedium besonders effizient geographische und soziokulturelle Distanz – von Produktion und Rezeption – ermöglichen und vermitteln, einhergehend mit der Potenzierung kultureller Netzwerke. Nicht zuletzt eignet den frühneuzeitlichen Dramen ontologisch ein Hybridcharakter: da sie als zur Aufführung bestimmt gedacht und rezipiert wurden. Ihnen ist also eine medienkonzeptuelle Differenz eingeschrieben, die sie in die Nähe anderer Renaissance-Gattungen, etwa den Dialog, rückt und die textkonzeptuell ausgewertet werden kann.

Die theoretische Gesamtschau dieser Entwicklung wird von Fallstudien zu exemplarischen Werken flankiert: Fernando de Rojas‘ „Tragicomedia de Calisto y Melibea“ („La Celestina“, 1499/1502), verbreitet in ganz Europa und nach Übersee, wird als Musterbeispiel für die Varianz frühneuzeitlicher Rezeption gelesen, worin die Konsequenzen dieser Streuung auch reflektiert und parallel zur Dramenhandlung gesetzt werden (Unsteuerbarkeit und Kontingenz von Affekten wie der Rezeption). An Ariosts für den Ferrareser Hof konzipierter Komödie „I suppositi“ (1509) und deren Verarbeitung in Shakespeares „The Taming of the Shrew“ (1592) interessiert Dr. Kilian v. a., wie Shakespeare den Transferprozess performativ inszeniert (als Zitat und ‚Spiel im Spiel‘) und wie er den Stoff für seinen eigenen komplexeren sozialen, politischen und ökonomischen Kontext adaptiert, wobei hier nicht zuletzt Gender-Aspekte zu berücksichtigen sind. Für Machiavellis „Mandragola“ (1518) wird – v. a. aus der Gattungsdifferenz zu seinem nicht für die Öffentlichkeit verfassten „Principe“ – das Bewusstsein herausgearbeitet, dass politische Theorie auf unterschiedliche Wahrnehmungsmodi einer sich vermassenden Öffentlichkeit zu reagieren hat. Théodore de Bèze‘ „Abraham sacrifiant“ (1550) – und dessen von Genf aus planvoll ventilierte Fernwirkung – wird als Teil einer kollektiven Selbstvergewisserung der calvinistischen Gemeinschaft gelesen und zugleich als Verarbeitung der damals gerade in Frankreich virulenten typographischen Diskussionen. Das französische Bibeldrama der ersten Reformationsphase ist für Dr. Kilian insofern ein zentraler Gegenstand, als hier v. a. Fragen der Divulgation und medialen Transformation der Heiligen Schrift und damit Konzepte der höchsten Autorität verhandelt werden. Einer weiteren Fallstudie dient Thomas Naogeorgs neulateinisches Heiligenstück „Pammachius“ (1538).

Alle Dramen werden als performative Kommentare zur ‚copia librorum‘ und Fragen textueller Autorität bzw. Sakralität gelesen und auf Innovationen ihres intertextuellen Bezugnehmens auf Teilbereiche des damaligen Wissens- und Publikationspanoramas beleuchtet: moralphilosophisches Schrifttum zur Liebesthematik (Rojas), politische Philosophie, Commedia dell‘arte und Novellistik (Machiavelli), Predigt-, Ratgeber- und Traktatliteratur zu Ehe und Familie (Shakespeare), die Tradition frühneuzeitlicher Bibeladaptionen und theologische Kontroversen (Bèze). Zur Rekonstruktion des epistemologischen Kontexts werden zudem nicht-dramatische Texte und als Vergleichskorpus für die Dramen selbst Texte aus prä-typographischer Zeit herangezogen.

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